Neue Blicke auf die Spanische Geschichte. Workshop Historische Spanienforschung

Neue Blicke auf die Spanische Geschichte. Workshop Historische Spanienforschung

Organisatoren
Martin Baumeister (München); Christian Windler (Bern); Walther L. Bernecker (Erlangen-Nürnberg)
Ort
Kochel am See
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.03.2005 - 20.03.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Till Kössler, München; Max S. Hering Torres, Wien

Die historische Beschäftigung mit Spanien steht im deutschsprachigen Raum im Schatten der historischen England-, Frankreich- und Italienforschung sowie der Lateinamerikastudien. Sie verfügt über keine dauerhafteren Institutionen und wenige Austauschforen. Ein von Martin Baumeister (München) und Christian Windler (Bern) in Zusammenarbeit mit Walther L. Bernecker (Erlangen-Nürnberg) organisierter und vom spanischen Kulturministerium geförderter Workshop im oberbayerischen Kochel setzte sich vor diesem Hintergrund zum Ziel, jüngere deutschsprachige Spanienhistoriker/innen zusammenzuführen, um aktuelle Forschungstrends zu diskutieren und eine bessere Vernetzung der Spanienforschung zu erreichen. Die Beiträge umfassten die Zeitspanne vom 16. Jahrhundert bis in die unmittelbare Zeitgeschichte und wiesen auch in thematischer und methodischer Hinsicht eine große Bandbreite auf. Gemeinsam war ihnen jedoch allen das Bemühen, über eine Deutung der spanischen Geschichte als Abweichung vom europäischen "Königsweg" hinauszukommen. Dies äußerte sich nicht zuletzt in der Prominenz transfer- und migrationsgeschichtlich angelegter Themen sowie in der intensiven Beschäftigung mit Fragen von Nationsbildung und nationaler Identität. Die Tagungsteilnehmer/innen widerstanden aber gleichzeitig der Versuchung, im Gegenzug die spanische Geschichte umstandslos in eine neue europäische "Nationalgeschichte" einzureihen. Vielmehr machten die einzelnen Vorträge auf Besonderheiten der spanischen Entwicklung aufmerksam, etwa die atlantische Ausrichtung in der Frühen Neuzeit und die Bedeutung der Auseinandersetzungen um Religion und Säkularisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Die Tagung verdeutlichte insgesamt die Fruchtbarkeit eines implizit vergleichenden Blickes über die historiographischen europäischen Kernländer England, Frankreich und Deutschland hinaus.

Herrschaftssystem und Außenbeziehungen

Die Erforschung des Herrschaftssystems und der Außenbeziehungen Spaniens seit dem 16. Jahrhundert, klassischen Themen der Historiographie, hat in den letzten Jahren erheblich von einer methodischen Neuausrichtung der Forschung profitiert. Hillard von Thiessen (Freiburg i.Br./Bern) nahm eine Neuberwertung der Figur des Günstlings-Ministers im frühneuzeitlichen Herrschaftssystem vor. Anhand einer Analyse des Herrschaftsalltags des Duque de Lerma, Minister Philipps III. von 1598 bis 1618, zeigte er, dass die Macht des Günstlings-Ministers wesentlich auf seinem verwandtschaftlichen Netzwerk beruhte, dessen Versorgung mit Posten einem sozialen Imperativ der Zeit entsprach. Die verwandtschaftlichen Beziehungen begründeten die Macht Lermas, bildeten jedoch gleichzeitig auch die Ursache seines Machtverlustes, als er den Konflikt zweier konkurrierender Teilverbände der Familie um Ressourcen nicht mehr zu moderieren vermochte.
Pervin Tongay (Berlin) plädierte anschließend für eine mikro- und kulturhistorisch erweiterte Untersuchung der türkisch-spanischen Beziehungen im 16. Jahrhundert. Anhand der Tätigkeit zweier spanischer Diplomaten am osmanischen Hof nahm sie Fragen der Herrschaftsrepräsentation und Fremdheitserfahrungen in diplomatischen Kreisen in den Blick und betonte die enge Verbindung der Geschichte der beiden Großreiche des 16. Jahrhunderts.
Auch der Vortrag von Katrin Zimmermann (Dresden) zur spanischen Kunstförderung in Rom im frühen 17. Jahrhundert zeigte die Vorteile eines erweiterten Verständnisses von Diplomatiegeschichte für die historische Forschung. Zimmermann machte auf die Bedeutung der Förderung und Sammlung von Kunstwerken als Mittel der Diplomatie aufmerksam und beschrieb ihre Rolle im Machtausbau und in der Machtabsicherung am spanischen Hof.
Dass neue Perspektiven auf die Geschichte der Außenbeziehungen auch für die Zeitgeschichte zu neuen Erkenntnissen führen, demonstrierte Carlos Collado Seidel (Marburg/München) in seiner grundlegenden Neubewertung der britisch-amerikanischen Spanienpolitik während des Zweiten Weltkrieges. Die Ursachen für das Überleben des Franco-Regimes über das Kriegsende 1945 hinweg sind nicht in Francos vermeintlichem diplomatischen Geschick zu suchen, wie eine zählebige Legende behauptet, sondern in übergeordneten geopolitischen Interessen und Meinungsverschiedenheiten Großbritanniens und der USA. Der Sieg über Hitler-Deutschland hatte für die beiden Großmächte immer Vorrang vor einer aktiven Politik gegen Franco, zumal man in Washington und London fälschlicher Weise ohnehin von einem inneren Zusammenbruch des Franco-Regimes spätestens bei Kriegsende ausging.

Migration und Diaspora

Migrationsgeschichte bildete einen weiteren Themenschwerpunkt des Workshops, der über Epochengrenzen hinweg von einer kulturgeschichtlichen Erweiterung profitiert hat und die spanische Geschichte eng mit der Geschichte Europas und des transatlantischen Raums verbindet. Bernd Hausberger (Berlin) analysierte die baskische Auswanderung und Identitätsbildung außerhalb des Baskenlandes. Er erklärte die Genese eines baskischen Sonderbewusstseins aus der spanischen Entwicklungsdynamik am Beginn der Neuzeit. Der Versuch der spanischen Monarchie, das Baskenland in seine Herrschaftsgebiete zu integrieren, veranlasste die Basken zu einer Neukonstruktion ihrer Identität, die deutliche Impulse von den in den Kolonien lebenden Basken erhielt und nicht selten politisch zur Begründung baskischer Privilegien eingesetzt wurde.
Volker Manz (Freiburg) untersuchte die Integration und Ausgrenzung von Fremden in Jerez de la Frontera zwischen 1750 und 1850. Er zeigte, dass Zugehörigkeit in nicht unwesentlichem Maße durch informelle Modi sozialer und wirtschaftlicher Eingemeindung bestimmt wurde. Versuche, die Umwandlung von Ausländern in Untertanen im Zuge des Staatsbildungsprozesses durch gesetzliche Regelungen einer Kontrolle zu unterwerfen, blieben bis Mitte des 19. Jahrhunderts in der Praxis weitgehend wirkungslos.
Klaus Weber (London) lieferte einen Überblick zu den EDV-Inventarisierungen, die in den vergangenen zwanzig Jahren in wichtigen Archiven (Provinzialarchive von Cádiz und Bilbao, Archivo Foral in Bilbao, Archivo de Indias in Sevilla, Rothschild Archive in London) ausgeführt worden sind und nun einen höchst effizienten Zugang zu wichtigen wirtschafts- und migrationsgeschichtlichen Quellenbeständen eröffnen. In einem Fallbeispiel erläuterte er die Wirtschaftsmigration deutscher Kaufleute nach Spanien zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert und beschrieb kaufmännische Netzwerke, die sich um 1800 zunehmend nach England hin orientierten.
Luis Manuel Calvo Salgado (Zürich) demonstrierte in seinem Vortrag zur galizischen Einwanderung in die Schweiz zwischen 1960 und 1990 die Fruchtbarkeit eines migrationshistorischen Ansatzes in der Zeitgeschichte, der die Makroebene der schweizerischen und spanischen Migrationspolitik mit der Mikroebene der Migrationserfahrung der einzelnen Emigranten verbindet. Axel Kreienbrink (Nürnberg) erläuterte die Entwicklung der spanischen Einwanderungspolitik in den 1980er und 1990er Jahren zwischen Europäisierung und nationalen Interessen. Er zeigte die große Bedeutung, die "Europa" in der Debatte und Gestaltung der spanischen Migrationspolitik zukam, während historische Erfahrungen auch in der grundsätzlichen Haltung zur Einwanderung keine Rolle spielten. In vielen Fällen wurden europäische Bestimmungen allerdings faktisch unterlaufen, um nationale Interessen in der Wirtschafts- und Außenpolitik durchzusetzen.

Religiöses und säkulares Wissen

Die Ergiebigkeit transfergeschichtlicher Studien demonstrierten auch einige Vorträge, die unterschiedliche Arten des Wissenstranfers in der Frühen Neuzeit beleuchteten. Martin Biersack (Regensburg) behandelte die Rezeption der italienischen Renaissance in Spanien zur Zeit der Reyes Católicos. Am Beispiel von zwei Personenkreisen im Umfeld der von den Katholischen Königen gegründeten Hofschule sowie des Erzbischof von Granada beschrieb der die unterschiedlichen Aneignungsweisen der Renaissancekultur in Spanien.
Arndt Brendecke (München) analysierte die Verfahren, mit denen Spanien "Wissen" über seine überseeischen Kolonien sammelte und verarbeitete. Er zeigte, wie sich im frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess ein auf "Kenntnis" basierender Herrschaftsbegriff durchsetzte, der mit einer zunehmenden Verschriftlichung und dem Aufbau administrativer Strukturen einherging. Anhand einer Fallanalyse eines Fragebogeneinsatzes von 1648 betonte Brendecke jedoch auch die Bandbreite, die der zeitgenössische Austausch von Informationen annehmen konnte, und betonte zugleich die Dysfunktionalität der "Informationsrituale", die merkwürdig ineffektiv waren und kaum in die politische Entscheidungsfindung einflossen.
Otto Danwerth (Hamburg) sprach über die spanische Wahrnehmung und Christianisierung des Todes von Morisken im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Er stellte fest, dass in der altchristlichen Wahrnehmung oftmals vereinfachte und archetypische Fremdbilder entstanden. Die Ambivalenz zwischen Assimilation und Identität wurde in den christlich-islamischen Synkretismen der Funeralriten deutlich, die immer wieder den Kontrollmechanismen der spanischen Inquisition unterstanden. Während der Diskussion wurden Anregungen möglicher Vergleiche mit der Todesauffassung in der indioamerikanischen Kultur der Anden (Aymaras) formuliert.

Ordnung von Staat und Gesellschaft

Der Übergang zur Moderne war in Spanien durch außergewöhnlich heftige und von tiefen ideologischen Gegensätzen geprägten Auseinandersetzungen um eine neue gesellschaftliche und nationale Ordnung geprägt. Lisa Dittrich (Berlin) beschrieb, wie die berühmte 98er Generation nach der Niederlage Spaniens im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 in Landschafts- und Reisebeschreibungen neue, um Landschaft und Volk kreisende Spanienbilder schufen. Diese stellten kulturpessimistisch unterfütterte Gegenentwürfe zur zeitgenössischen Gesellschaft und des herrschenden Restaurationsregime dar, ohne aber positive Vorstellungen von Gemeinschaft zu entwerfen. Im Verlauf der Jahre verloren die neuen Gemeinschaftsvorstellungen immer mehr ihren gesellschaftskritischen Charakter und trugen zur Stabilisierung des politischen Systems bei.
Der Konflikt zwischen Laizismus und Katholischer Kirche stellt einen Fundamentalkonflikt der neueren spanischen Geschichte dar, der sich auf weite Felder der Gesellschaft auswirkte. Daniel Rades (Bielefeld) zeigte in seiner Darstellung der Parlamentsdebatten um die Zivilehe im Sexenio Revolucionario (1868-1874), wie die Pläne zur Einführung der weltlichen Ehe sich rasch zu einem regelrechten Kulturkampf ausweiteten, in dem um die nationale Identität und die Ordnung der Geschlechter gestritten wurde. Rades machte besonders darauf aufmerksam, wie eng die innerspanische Auseinandersetzung mit einer imaginären moralischen Topographie Europas in Verbindung stand.
In seinem Beitrag zur katholischen Erziehung im ersten Jahrhundertdrittel betonte auch Till Kössler (München) die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung um Religion für ein Verständnis der spanischen Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg. Er zeichnete eine widersprüchliche Modernisierung der katholischen Bildungsanstrengungen nach. Während katholische Pädagogen auf die Herausforderung durch eine betont weltliche Erziehung zunehmend mit einer Aneignung moderner pädagogischer Ansätze reagierten, versuchten sie gleichzeitig, die katholischen Kinder und Jugendlichen auch über den eigentlichen Schulunterricht hinaus auf neuartige Weise religiös zu erfassen und zu militanten Kämpfern für die katholische Sache zu machen.

Geschichtspolitik und Erinnerung

Die politischen und kulturellen Kämpfe waren immer auch Auseinandersetzungen um eine Deutungshoheit über die spanische Geschichte, wie Sören Brinkmann (Nürnberg-Erlangen) in seinem Vortrag zum Verhältnis von Nation und Region im Spanien des 19. Jahrhunderts betonte. Entgegen der herrschenden Forschungsmeinung, so sein Argument, hätten Region und Nation im Prozess der Nationsbildung keinen Gegensatz gebildet. Regionale Sinnstiftung erfolgte im Gegenteil häufig komplementär zur "Erfindung der Nation". Am Beispiel Aragoniens erläuterte Brinkmann die Ambivalenzen der regionalen Selbstdefinition im Verlauf des 19. Jahrhunderts, die zwischen einer konfrontativen regionalen Identifikation und Nationalisierungsschüben oszillierte. Die Entwicklung des nationalen Diskurses in Spanien seit dem Tod Francos machte schließlich Carsten Humlebæk (Kopenhagen/Florenz) zum Gegenstand seines Beitrags. Mit dem Begriff des nation-rebuilding umschrieb er die Art und Weise, wie in Spanien nach der Diktatur eine Reintegration der Nation betrieben wurde. Wie heterogen dieser Entwicklungsgang war, spiegelte sich in den unterschiedlichen und stets politisch gefärbten Umgangsweisen mit der Vergangenheit wider, die von Verdrängung, Distanzierung und Kontinuität gekennzeichnet waren.
Leider konnte auf der Tagung nur ein Teil der zurzeit in Arbeit befindlichen vielversprechenden Projekte zur Geschichte Spanien vorgestellt werden. Doch schon die einzelnen Vorträge zeigten, wie erstaunlich vielfältig die historische Spanienforschung, ihrer geringen Institutionalisierung zum Trotz, im deutschsprachigen Raum ist. Es zählt zu den besonderen Vorzügen der Tagung, dass sie über die traditionellen Gegenstände des deutschsprachigen historischen Interesses an Spanien hinaus neue Themen- und Forschungsgebiete für die historiographische Debatte hierzulande erschlossen hat. Die Tagung folgte damit einem längerfristigen Trend der hiesigen Spanienforschung, eine Konzentration auf wenige Kerngebiete zugunsten einer umfassenderen, multiperspektivischen Sichtweise aufzugeben. Spanische Geschichte erscheint so mehr denn je als Teil einer gesamteuropäischen und transatlantischen Geschichte. Es ist dabei nicht zuletzt die Möglichkeit, einen erweiterten, über die "klassischen" Kernländer der historiographischen Forschung hinausgehenden Blick auf die Geschichte Europas zu werfen, die eine Beschäftigung mit der Spanischen Geschichte reizvoll macht. Aufgrund der überaus positiven Resonanz von Teilnehmern und Kommentatoren des Workshops ist eine Neuauflage der Tagung in ein bis zwei Jahren geplant.


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